Montag, 7. März 2011

Hipster-Postille



Beim Umräumen stieß ich heute auf eine Kiste mit alten Ausgaben der SPEX, dem Kölner Zentralorgan der Musikstalinisten. Vom Cover leuchtete mir Patsy Kensit entgegen, It-Girl der Popjournaille im Jahre 1985 (siehe oben). Und natürlich habe ich mich festgelesen in den einzelnen Ausgaben, die etwas durch die Jahrzehnte transportieren, was im heutigen Musikjournalismus längst verloren gegangen ist. Es herrscht ja nur noch PR-Sprech - man kann von den seitenlangen intellektuellen Gedankenlabyrinthen eines Diederich Diedrichsen halten, was man will, aber für eine historische Sekunde Mitte der 80er nahmen diese Herren und Damen das Glücksversprechen des POP bierernst. Musik zur Zeit, lautete der Untertitel und das war Anspruch und Versprechen gleichzeitig. Auch das übergroße Format (Zeichenblockgröße?) signalisierte: Wir sind vorne. Mit interessanten Ergebnissen:
So arbeitete sich die Sozialistin (und spätere Nick Hornby-Übersetzerin) Clara Drechsler  1986 an den sozialistischen Soulfans und bekennenden Skinheads Redskins ab, als gälte es, die Fraktionsscharmützel der Arbeiterbewegung auch in der 4. Internationale des Pop durchzukämpfen. Die Band ging wirklich davon aus, daß England demnächst von einer Revolution ergriffen werde. Soviel zum Realitätsbezug der Insel-Sozialisten, die inmitten des schlimmsten konservativen Backlashs in der britischen Geschichte die rote Fahne siegesgewiß hochhielten. Tsts.
In der Rubrik "Schnell und vergänglich" informierte man den geneigten Leser von der Absage der Prince-Europatournee - nach dem US-Luftangriff auf Libyen (!) fürchtete der Sex-Zwerg sich vor Terroranschlägen.
Und U2 wurden selbstverständlich und vollkommmen zu Recht gnadenlos verrissen als Soundtracklieferanten für den Kirchentag. (Ich würde heute gerne mal einen Artikel über Xavier Naidoo von den damaligen Schreibern verfassen lassen...)

Ein Foto des jungen Götz Alsmann in einer Anzeige für sein Buch /Doktorarbeit (!) "Nichts als Krach" lässt nicht ahnen, dass er einmal im dritten Programm des Westdeutschen Rundfunks auf seine Rente warten würde. Er wirkt so - jugendlich:


Natürlich war die SPEX damals die Bibel und wer wie ich in einer absolut unhippen Kleinstadt saß, sog die Nachrichten aus Hipsterhausen auf wie der berühmte Schwamm. Man erkannte die halbwegs coole Popavantgade damals daran, dass sie ebenso wie ich bis in die nächste Großstadt pilgerte, um die jeweils neueste Ausgabe zu erstehen. (So dachte ich zumindest, arrogant wie ich damals eben war.) Später heirateten alle lässigen Indie-Fans ein Mädchen aus der Mittelschule (Credits an DD d.Ä.) und ließen die Jesus and Mary Chain-Platten verstauben.

Es gab in der SPEX sogar eine Rubrik für Cassetten. Das selbstproduzierte Tape galt damals als Inbegriff wahren Underground-Muckertums. Eine Kritik in der SPEX erhob die Provinzschrammler und Casio-Nerds dann in den Pophimmel, jedenfalls für ungefähr einen Monat. (Ich erstand 1984 ein Live-Tape der Toten Hosen auf einem Düsseldorfer Flohmarkt, von einem sympathischen Mitarbeiter aus dem Umfeld der Band. So konnten Vertriebsstrukturen damals auch noch aussehen!)

Folgerichtig und in Erwartung großer Umsätze mit den heimischen Kopierwütigen schaltete die Industrie auf dem Back-Cover teure Vierfarbanzeigen für ihre  DIY-Tonträger , die auch "in feinsten Kreisen" Gehör fanden. Natürlich im ultrakühlen Look der Zeit (warum die weißen Herren sich die Hände vor das Gesicht schlagen, müßte uns wohl der koksbesessene Creativ Director erklären):



Heute längst arrivierte Heroen kamen in der SPEX zu Ehren, von der Redaktion allerdings bereits mißtrauisch beäugt ob eines Publikums, das sich zunehmend aus Bundeswehrsoldaten zusammensetzte. Die Hosen erregten im Mai 1985 Aufsehen beim Fototermin im Kölner Neptunbad, damals ein noch funktionierendes kommunales Bad, heute Yuppie-Wellness-Oase in privater Hand:


So ändern sich also die Zeiten. Viele aus der SPEX-Mannschaft von damals sind heute beim Fernsehen, an der Uni oder in den warmen Nischen des bürgerlichen Kulturbetriebs. Und die Plattenindustrie ist längst tot.

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